Der tantrische Weg

Was ist Tantra?
In der heutigen Zeit erzeugt dieses Wort allerlei Assoziationen, die erregend, ablehnend oder ärgerlich sein können. Als zeitgenössischer Tantralehrer stelle ich immer wieder fest: viele Menschen haben schon davon gehört, haben eine vage Ahnung, worum es dabei geht, und viele meinen sogar, genau zu wissen, was Tantra ist, und liegen dabei nicht selten falsch.
In der heutigen Zeit hat sich Tantra in der Wahrnehmung vieler Menschen zu einer indischen Spielart der Liebeskunst entwickelt und wird oft in die Nähe der Lehren des Kamasutra gestellt, von dem wir Westler auch meist nur eine vage Ahnung haben. Tantra, so kann man hören, hat etwas mit Indien und Sex zu tun, bzw. damit ist eine bestimmte Form der erotischen Massage gemeint. Oder, noch schlimmer: Tantra, das sind Seminare für Leute, die sich nicht Trauen, so richtig ranzugehen. Oder: Tantra ist etwas für Paare, damit da die Lust wieder erweckt wird.
Da ist ein Körnchen Wahrheit drin. Und im Ganzen dennoch weit verfehlt.
Tantra ist von seinem Ursprung her ein spiritueller Pfad, der sich innerhalb der indischen Religionen des Hinduismus und Buddhismus entwickelt hat, und der eine radikale Herangehensweise an die Fragen des Lebens bedeutet.
Tantra, so könnte man sagen, ist eine systematische und experimentelle Methode, die zur Erweiterung des Bewusstseins führt. Am Ende des Weges steht die völlige Entfaltung des menschlichen Potentials – auch Erleuchtung oder Befreiung genannt.

Tantra definieren

Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Sanskritwort Tantra zu übersetzen. Eine mögliche Deutung ist „Kontinuität“, worunter man verstehen kann, dass es keine Trennung zwischen der Profanen und der heiligen Welt gibt, sondern dass diese ineinander fließen.
Nach einer zweiten Lesart ist Tantra das, was einen zur Befreiung führt.
Tantra kann auch Webstuhl oder Weberschiffchen bedeuten, also das Instrument zur Erweiterung des Bewusstseins und Erkenntnis des Weltengewebes
Nicht zuletzt heißt Tantra einfach „Text“ oder Abhandlung. Das bezieht sich auf eine große Anzahl von Texten, die für die tantrischen Tradition grundlegend sind.
Im folgenden Abschnitt werde ich versuchen, die wichtigsten Charakteristiken des Tantra zusammenzufassen, die diesen Weg von anderen unterscheiden.

Tantra ist keine Religion

Nach Ansicht der meisten Experten ist Tantra ist keine spezielle Religion. Historisch bezieht sich Tantra auf die beiden großen indischen Religionen: Buddhismus und Hinduismus. Tantra scheint eher eine besondere Lebenseinstellung zu sein als eine andere Philosophie: anstelle von Buchwissen und Philosophie wiegt im Tantra die Erfahrung und Intuition schwerer.

Es geht in der tantrischen Praxis weder um Selbstkasteiung noch darum, sich so lange mit Dingen aufzuhalten, die der eigenen Erfahrung nicht zugänglich sind. Vielmehr öffnen tantrische Methoden besondere Erfahrungsräume, in denen sich dem Tantrika bestimmte Zusammenhänge unmittelbar zeigen. In Tantra-Schriften wird immer darauf hingewiesen: Philosophie allein nützt nichts, nur Praxis
Somit kann nur der als Anhänger des Tantra bezeichnet werden, der die Lehren regelmäßig praktiziert.
Tantriker spotten über traditionelle Gläubigkeit und sie stellen das Experiment über die konventionelle Moral. Eine Aussage, der die meisten Tantriker zustimmen würden, ist, dass ihre Methode gefährlich und radikal, aber auch ein schneller Weg zur „Befreiung“ oder „Erleuchtung“ ist

Tantra ist nicht-dualistisch

Die Welt der Phänomene und das Reich des Göttlich-Absoluten erscheint dem gewöhnlichen Menschen erstmal getrennt. Durch die kontinuierliche tantrische Praxis wird der Tantra-Schüler jedoch mehr und mehr zu der Erfahrung geführt, dass Geist und Materie beides Manifestationen einer höheren Realität sind, die unsere eigentliche wahre Natur ist
Tantra sowohl in der hinduistischen als auch der buddhistischen Form betont nachdrücklich die Identität der relativen, von uns erfahrenen Welt, die im Indischen Samsara genannt wird, und der absoluten Welt, dem Nirvana. Samsara und Nirvana sind eins.
Erleuchtung heißt also für die Tantriker nicht, dass man die Welt aufgeben oder die natürlichen Impulse abtöten müsse, wie das bis dahin in den meisten indischen Weisheitslehren behauptet wurde.

Alle Gegensätze sind illusorisch, auch der zwischen Gut und Böse, einzig die universelle Leere bzw. das universelle Bewusstsein existiert, alles andere hat keine wirkliche Realität. Wer den tantrischen Yoga praktiziert, wird zu dieser Erkenntnis hingeführt und erreicht dauerhafte Befreiung, ohne das materielle Leben deshalb aufgeben zu müssen.
Es entsteht jedoch eine souveräne innere Distanz zu diesem, weil man jetzt in einer tieferen Wirklichkeit ruht.
Typisch für den Weg das Tantra ist auch, dass er in seiner Entstehungszeit prinzipiell allen Menschen zugänglich war, unabhängig von Geschlecht, Kaste oder sozialer Stellung. Das war zu der damaligen Zeit sicherlich revolutionär.

Spiritualität des Kali-Yuga
 
Tantriker teilen mit den traditionellen indischen Lehren die Überzeugung, dass wir viele Male wiedergeboren werden und dass sich dieser Kreislauf nur durch den Moment der Erleuchtung unterbrechen lässt. Die Kette dieser Wiedergeburten wird durch die Kraft des Karma bestimmt, in der sich die ethische Qualität unseres Lebens widerspiegelt.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Schulen glauben Tantriker fest an die Möglichkeit der vollständigen Erleuchtung oder Befreiung, während man sich noch in diesem verkörperten Zustand befindet. Diese Befreiung wird durch Aktivierung der transzendenten Kraft, Kundalini genannt, die im menschlichen Körper schläft, umgesetzt.

Nach hinduistischer Auffassung leben wir zur Zeit in einem dunklen Zeitalter, dem Kali-Yuga. Aus Sicht der Tantras sollten wir uns daher aller Mittel auf dem spirituellen Weg bedienen, einschließlich Praktiken, die der konventionellen Moral entgegengesetzt sind.

Die Tantrika erkennen an, dass spirituelle Verwirklichung als Nebenwirkung eine Vielzahl von okkulten Kräften freisetzt. Während in vielen anderen Richtungen, diese Kräfte, Siddhis genannt, als der geistigen Entwicklung hinderlich abgelehnt werden, scheinen die tantrischen Praktizierenden ein gewisses Interesse daran zu haben, diese zu spirituellen und weltlichen Zwecken zu nutzen.

Tantra – ein Universum magischer Analogien

Das tantrische Weltbild ist voller magischer Analogien zwischen dem Menschen, dem Universum, den Göttern und dem Ritual. All diese gelten nicht als einzelne Einheiten, sondern als verschiedene Manifestationen des Einen, die in einer tieferen Weise miteinander verbunden sind.
„Das Universum ist ein großer Mensch, der Mensch ist ein kleines Universum“ ist in einem tantrischen Text zu lesen
Daher bedienen sich die Tantras auch einer geheimnisvollen analogen Sprache, die je nach Sichtweise religiös, rituell, sexuell oder nicht-dualistisch interpretiert werden kann. Vor allem die Unterscheidung profan und spirituell wird nach Möglichkeit vermieden. Alles ist profan, göttlich, sexuell und spirituell und auch einfach nur da. Der menschliche und persönliche Mikrokosmos ist, so die tantrische Lehre, denselben Mustern und Gesetzmäßigkeiten unterworfen wie der Makrokosmos des Universums. Hat man den einen verstanden, erschließt sich auch der andere.

Der Naturphilosoph Jochen Kirchhoff fasst zusammen:
„Das tantrische Universum ist ein magisches Universum. Es ist eine Welt des magischen Zugleich, des magischen Ineinander all dessen, was sich vordergründig als getrennt und abgesondert manifestiert. Jede Einheit ist mit allen anderen verbunden, sowohl horizontal (von Zelle zu Zelle, von Menschen zu Menschen z.B.) als auch vertikal (d.h. zur nächst höheren Einheit wie das Atom zum Molekül, aber auch zur nächst niedrigen wie ein Körper zu seinen Organen). Mit Wilber könnte man es als holonisches Weltbild beschreiben. So bilden alle Dinge ein Gewebe des Lebens. Einzig das isolierte und getrennte Ich steht dieser kosmischen Harmonie im Wege. Der tantrische Weg setzt nun da an, dass das zu kleine und zu isolierte, monadisierte Ich nicht etwa vernichtet wird, sondern so erweitert, dass man sich als größeren Zusammenhang zu begreifen lernt, schließlich mit dem ganzen Gewebe des Lebens, mit Shiva-Shakti identifiziert und von dort aus auf die Dinge auch des täglichen Lebens bezieht“.

Welt-, Körper-, und Lustbejahung

Um die Tantras in der Tiefe verstehen zu können, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die klassische indische Spiritualität sehr stark vom Ideal der Askese und Entsagung beeinflusst ist. Insbesondere die als höchste Weisheit gehandelten Upanishaden sowie das Yoga-Sutra des Patanjali betonen, dass wahre Weisheit und Befreiung nur dadurch erzielt werden kann, dass der Yogi seine Sinne vollkommen von der Welt und den Sinneserfahrungen zurückzieht und Befreiung und Wonne in den tiefen seines Geistes findet.
Die tantrischen Schriften versuchen diese Weltflucht zu überwinden, indem sie die Frage radikal stellen: wenn es nur das Eine, Ungeteilte gibt, warum soll man sich vom Weltlichen abwenden und mit seinen natürlichen Impulsen kämpfen? Warum die Welt und den Körper als Feind betrachten, warum der Lust und dem Vergnügen entsagen, wo es doch auch Teil des Göttlichen ist?
Tantra sieht die Dinge non-dual, und lehnt somit auch den Unterschied zwischen dem geistlichen und weltlichen Leben ab. Dies ist ein Bruch mit der upanishadischen Idee des Rückzugs von der Welt als Voraussetzung für die große Befreiung. Das weltliche Leben soll nicht verlassen werden, sondern wird als Mittel zur Erleuchtung genutzt.
„Es ist ein Grundgedanke des Tantra, dass der Mensch durch das Leben hindurchgehen müsse, und zwar nicht, indem er sich von der Natur abwendet, sondern indem er sie benutzt.“

Besonders am Tantra ist seine positive Haltung gegenüber der Materie. Man könnte Tantra auch definieren als die Kunst, die Energien der materiellen Welt sinnvoll zu nutzen. Ein befreiter Mensch hat zum einen alles Leid und alle Verwirrung hinter sich gelassen und zum anderen Fähigkeiten erworben, um ein befriedigendes weltliches Leben zu führen.

Tantra ist eine Lehre, die Geist und Körper als Einheit sieht und gleichermaßen achtet. Einen menschlichen Körper zu haben gilt im Tantra sogar als äußerst kostbar, weil er die Quelle zur Kundalini-Erfahrung ist, die alles verwandelt. Im buddhistischen Tantra z.B. wird der Besitz eines menschlichen Körpers höher eingeschätzt als z.B. der Körper eines Gottes, da nur der Mensch allein an allen drei Welten teilhat und als einziges Wesen das Potential zur völligen Befreiung und Erleuchtung besitzt.
Der Körper soll nicht überwunden, sondern erleuchtet werden. Der subtile Körper, über den wir an anderer Stelle noch mehr erfahren werden, soll mehr und mehr hervortreten, als Manifestation göttlichen Bewusstseins.
Der Körper gilt den Tantrikas nicht mehr als "Quelle der Schmerzen" wie in den vor-tantrischen Schriften, sondern als "Tempel Gottes". Der Körper, der Abbild der Welt ist, wird zum perfekten Werkzeug für die Befreiung. Für den Tantriker muss der Körper so lang als möglich und in vollkommenem Zustand erhalten werden, gerade um die Meditation zu erleichtern. Tantra erfordert eine Pflege des Körpers, einen kräftigen, gesunden Körper, da im Körper die Mysterien zu finden sind.
Eine wichtige Unterscheidung, die sich etabliert hat, ist die zwischen rechtshändigem Tantra (Dakshinachara) und linkshändigem Tantra (Vamachara). In der Praxis der rechten Hand ist Meditation das Hauptelement zur Befreiung, in der linken Weg das Ritual, das auch sexuell-spirituelle Praktiken einschließt.
Die Frau, der Körper, die Sinne, sind nicht mehr zu meiden, sondern auf dem Weg der Befreiung zu integrieren. Tantrika sind der Ansicht, dass sexuelle Energie eine wichtige Grundsubstanz ist, die weise genutzt werden soll, um den spirituellen Prozess zu unterstützen und anzutreiben. Sexuelle Praxis z.B. ist ein Element, das es auch Familienmenschen ermöglichen sollte, Befreiung zu erfahren. Sexualität wird dadurch zum Mittel der Befreiung, anstatt zum Hindernis.
Durch die Integration sinnlicher Elemente, z. B. des rituellen Geschlechtsverkehrs, Maithuna, in den tantrischen Übungsweg, wurde die Lust zu einem Eckpfeiler der tantrischen Praxis. Tantra ist einmalig in dem Sinn, dass es eine Synthese von gegensätzlichen Werten, Yoga (Befreiung) und Bhoga (Genuss) darstellt.

Weltliches Leben allein reicht jedoch nicht. Zitat aus dem Kularnava-Tantra: “Wenn man wirklich Vollkommenheit durch Weintrinken erreichte, würden alle Säufer Vollkommenheit erreichen. Würden Tugenden vom Fleischessen kommen, wären alle fleischfressenden Tiere dieser Welt tugendhaft. O Göttin, wenn Befreiung durch die Beglückung der Frauen möglich wäre, wurden alle Wesen dieser Welt befreit sein.“ Auch im Vamachara, dem linken Weg, muss man sich an die Anweisungen und feinen Verhaltensregeln der Tantras halten und viel praktizieren.

Die Tantrika betonen dabei die richtige Absicht und Motivation sowie ausreichende Einweihung und Führung. Sich im Genuss nicht zu verlieren, gerade das macht Tantra so delikat, dass vom „Ritt auf einer Rasierklinge“ geschrieben wird. Im Vergleich zu anderen spirituellen Wegen ist es hier leichter, vom Weg abzukommen und zu scheitern.
Tantra ist praktisch, vielfältig und anpassungsfähig
Tantra ist keine Freizeitbeschäftigung, sondern fordert den ganzen Menschen. Die Praxis besteht aus einer abgestimmten Folge von körperlichen, intellektuellen, spirituellen und rituellen Übungen.
„Tantra ist von seiner Natur her eine enzyklopädische Wissenschaft. Es ist auf Praxis ausgerichtet und allen Wortgefechten abhold. Es entzündet die Fackel und zeigt den Weg, Stufe um Stufe, bis der Reisende ans Ziel der Reise gelangt“, schreibt John Woodroffe, einer der Pioniere der Erforschung tantrischer Lehren.
Im Tantra geht es gleichermaßen um Innen UND Außen. In der tantrischen Tradition finden wir Abhandlungen zur Kosmologie, Magie, Handlesekunst, Astrologie, Chemie, Alchimie usw. Wichtigstes Ziel der tantrischen Bestrebungen ist aber immer die tiefere Selbsterkenntnis.

Tantra hat als sehr praktischer Weg verschiedene Methoden übernommen, um den Bedürfnissen, aber auch den Fähigkeiten und Voraussetzungen seiner Anhänger entgegenzukommen. Obwohl das Ziel für alle dasselbe ist, bietet Tantra eine relativ hohe Freiheit, den Weg auf unterschiedliche Weise zu gehen

Tantra stellt eine Vielzahl von praktischen Techniken für unterschiedliche Situationen zur Verfügung. Ziel dabei ist, jede Handlung im Leben zur spirituellen Praxis werden zu lassen.
Tantrische Praxis ist dabei in vielen Fällen unkonventionell und steht nicht selten im systematischen Gegensatz zu den kulturellen Gepflogenheiten. Tantra sucht die Konfrontation, um kraftvolle Schocksituationen zu erzeugen, um daraus wieder Kraft zu kanalisieren

Schriften, Guru und Gemeinschaft

Klassische Tantra-Praxis wird in der Regel innerhalb einer Lerngemeinschaft, die in Hinduismus Kula und im Buddhismus Sangha heißt, übertragen. Die Gemeinschaft wird von einem Guru geleitet, der im Gegensatz zu anderen Schulen auch eine Frau sein kann. In der Regel steht ein tantrischer Guru in einer Übertragungslinie, die bei Shiva, Buddha oder einer kosmischen Autorität endet, und ist in eine bestimmte tantrische Schule wie z.B. Kaula, Trika oder Karma-Kagyü integriert.

Initiation bei einem qualifizierten Meister ist im Tantra von zentraler Bedeutung. Die Einweihung ist nötig, um die tantrischen Texte zu verstehen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Bedeutung der Texte verändert, wenn sich das Sein des Schülers verändert hat. Ein fähiger Lehrer kann die Reife des Schülers erkennen und ihm ergänzende Instruktionen mündlich geben, die seinem jeweiligen Grad und auch seinen speziellen Qualitäten entsprechen.
Tantrische Praxis hat die Qualität, zu transformieren und nicht bloß neues Wissen anzuhäufen.

Die Praxis fußt in der Regel auf einer oder mehreren Tantra-Schriften, die für die entsprechende Schule die Bedeutung eines kanonischen Textes haben.
Die Tantra-Schriften sind meist anonym, die Abfassung wird einem göttlichen Ursprung zugeschrieben. Tatsächlich scheinen sie zur Gattung der Offenbarungsliteratur zu gehören und werden immer auf eine göttliche Quelle, Shiva, Shakti oder Buddha zurückgeführt.
Die Hindu-Schriften lassen sich in die Agamas, in denen Shiva Shaktis Fragen beantwortet, und die Nigamas, in den Shakti die Fragen Shivas beantwortet, unterteilen.

Zu diesen Wurzel-Texten kommen in der Regel noch Anweisungen zur Sadhana, also zur regelmäßigen Praxis dazu, die meist nur Eingeweihten zugänglich sind und wesentlich einfacher zu verstehen sind, sowie spezielle Mund-zu-Ohr-Belehrungen, die nur mündlich weitergegeben werden, und die der Schüler streng geheim zu halten hat. Die tiefere Bedeutung eines Tantra entschlüsselt sich in der Regel nur aus diesen drei Komponenten.

Frauenverehrung

Im Vergleich zu anderen Systemen werden in den meisten tantrischen Schulen weibliche Gottheiten verehrt. Die Göttin in all ihren Formen verkörpert im Tantra die stofflichen Seite des Universums im Außen und die Lebensenergie im Inneren.
Viele Autoren stellen hier historische Bezüge zum archaischen Matriarchat und Göttinnenkult her. Die verdrängte Weiblichkeit kam wieder zu ihrem Recht: auf der metaphysischen Ebene durch die Aufwertung der weiblichen Ur-Kraft, jetzt Shakti genannt, auf der gesellschaftlichen Ebene durch eine religiöse Gleichwertigkeit der Frauen, die jetzt verstärkt auch Lehrerinnen waren.

Man kann jedoch Tantriker nicht völlig gleichsetzen mit Verehrern der Großen Göttin: es gibt Tantras, die eher den Shiva-Aspekt betonen, es gibt buddhistische Tantras, wo das Weibliche eine kleinere Rolle spielt, und es gibt ebenso auch nicht-tantrische Shakti-Verehrer.

Zusammenfassung dieses Kapitels:
Tantra ist eine radikale, praxisnahe und experimentelle Umsetzung der religiösen oder philosophischen Idee des Non-Dualismus. Die tantrische Philosophie macht keinen Unterschied von der menschlichen und der göttlichen Sphäre. Geist und Materie sind beides Manifestationen einer höheren Realität, die unsere allgegenwärtige wahre Natur ist. Der menschliche Körper und seine Energie werden als Analogie zum Universum angesehen.
In unserer heutigen Zeit sei es notwendig, alle Möglichkeiten zur Erleuchtung zu nutzen, und seien diese auch unkonventionell.
Im Gegensatz zu anderen spirituellen Systemen ist Tantra weltbejahend und schließt Sinnlichkeit, weltliche Erfolge und sogar Sexualität mit ein. Tantra ist vielfältig, praxisnah und anpassungsfähig. Das weltliche Leben wird als Mittel zur Erleuchtung anerkannt.
Die weibliche Energie wird im Tantra anerkannt und verehrt.
Initiation und die Beziehung von Guru und Schüler sind von wesentlicher Bedeutung.
Das Ziel soll durch die Aktivierung der schlafenden Kundalini-Kraft im menschlichen Körper erreicht werden.